Anabole Resistenz: Der stille Faktor hinter altersbedingtem Muskelverlust
Im Laufe des Lebens verändert sich unser Körper, und während viele Prozesse offensichtlich sind, spielt sich eine der wichtigsten Veränderungen im Stillen ab: die sogenannte Anabole Resistenz. Dieser Begriff, zentral in der Gerontologie und Sportmedizin, beschreibt das Phänomen, dass die Muskeln älterer Menschen schlechter auf wachstumsfördernde (anabole) Reize reagieren als die von jüngeren. Es ist, als würde Ihr Körper im Alter eine unsichtbare Handbremse anziehen, die den Muskelaufbau drosselt, selbst wenn Sie essen und trainieren.
Was genau ist anabole Resistenz?
Der Prozess des Muskelaufbaus wird als Muskelproteinsynthese (MPS) bezeichnet, bei dem neue Proteine in den Muskelzellen gebildet werden. Im gesunden, jungen Körper wird die MPS stark durch die Zufuhr von Aminosäuren (insbesondere der essenziellen Aminosäure Leucin) aus der Nahrung und durch Widerstandstraining stimuliert.
Die anabole Resistenz bedeutet nun, dass die Signalketten im Muskel älterer Menschen, die diese MPS auslösen, abgestumpft sind. Konkret:
- Protein-Schwelle ist höher: Um die MPS maximal anzuregen, benötigen ältere Muskeln eine deutlich höhere Menge an Protein/Leucin pro Mahlzeit als jüngere.
- Trainingsreaktion ist verzögert/vermindert: Der Zuwachs an MPS nach einer Trainingseinheit ist im Alter geringer und kann verzögert eintreten.
Dieses Ungleichgewicht ist der Haupttreiber der Sarkopenie – dem fortschreitenden Verlust an Muskelmasse, -kraft und -funktion, der im Alter auftritt.
Die schwerwiegenden Konsequenzen
Die Auswirkungen der anabolen Resistenz sind weit mehr als nur kosmetisch. Sie berühren die Kernaspekte der Lebensqualität im Alter:
- Verlust der Unabhängigkeit: Reduzierte Kraft erschwert oder verunmöglicht alltägliche Aufgaben wie das Tragen von Einkaufstaschen, das Aufstehen aus einem Stuhl oder das Öffnen von Gläsern.
- Erhöhtes Risiko für Stürze und Knochenbrüche: Muskelschwäche ist der Hauptrisikofaktor für Stürze. Eine Sarkopenie in Kombination mit einer abnehmenden Knochendichte (Osteoporose) führt oft zu folgenschweren Frakturen (z. B. Oberschenkelhalsbruch), die oft den Beginn einer Pflegebedürftigkeit markieren.
- Stoffwechselprobleme: Muskulatur ist metabolisch hochaktiv. Ihr Verlust beeinträchtigt die Fähigkeit des Körpers, Blutzucker effizient zu regulieren, was das Risiko für Insulinresistenz und Typ-2-Diabetes erhöht.
- Verschlechterte Prognose bei Krankheit: Bei akuten Krankheiten oder Krankenhausaufenthalten kommt es zu einem schnellen Muskelabbau. Aufgrund der anabolen Resistenz haben ältere Menschen größere Schwierigkeiten, diese verlorene Masse wiederherzustellen, was die Genesung verlangsamt und die Mortalität erhöht.
Wie können wir die Handbremse lösen?
Die Forschung liefert klare Handlungsempfehlungen, die die anabole Resistenz teilweise überwinden können:
1. Die Protein-Strategie überdenken:
- Gesamtzufuhr erhöhen: Ziel sollte eine tägliche Proteinzufuhr von ca. 1,6 bis 2,2g/kg Körpergewicht sein – deutlich mehr als die allgemein empfohlene Menge für jüngere Erwachsene.
- Gleichmäßige Verteilung: Das Protein sollte nicht nur abends verzehrt werden. Experten raten dazu, die erhöhte Proteinmenge auf 3-4Mahlzeiten gleichmäßig zu verteilen, um die MPS über den gesamten Tag maximal zu stimulieren.
Qualität zählt: Die Wahl von L-Leucin-reichen Proteinquellen (z. B. Molkenprotein, Fleisch, Eier) ist effektiver.
2. Progressives Widerstandstraining ist Pflicht:
- Krafttraining (z. B. mit Gewichten, Widerstandsbändern oder dem eigenen Körpergewicht) ist der potenteste Stimulus, der die anabole Empfindlichkeit des Muskels für 24-48 Stunden nach dem Training wiederherstellt. Es sollte mindestens 2-3 Mal pro Woche durchgeführt werden.
3. Ergänzende Mikronährstoffe:
- Die Supplementierung mit Vitamin D, Kreatin und dem Leucin-Metaboliten HMB zeigt in Studien ergänzende positive Effekte auf Muskelkraft und -masse, insbesondere in Kombination mit Training.

Fazit:
Die anabole Resistenz ist ein natürlicher Bestandteil des Alterns, aber keine unabwendbare Katastrophe. Durch eine gezielte Kombination aus angepasster Ernährung und regelmäßigem, forderndem Widerstandstraining können ältere Erwachsene diesen Prozess effektiv verlangsamen, ihre Muskelgesundheit optimieren und somit ihre Lebensqualität und Unabhängigkeit bis ins hohe Alter bewahren. Es ist nie zu spät, damit anzufangen!


